22.01.17 Muss eine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen werden?

Ist der Unfallgeschädigte verpflichtet, seine Vollkaskoversicherung in Anspruch zu nehmen?
Nach einem Verkehrsunfall ist der Geschädigte, welcher unverschuldet in einen Unfall gerät vielen Fragen ausgesetzt, die man ohne eigene Erfahrungen als Laie kaum beantworten kann. Dazu zählt zum Beispiel die Frage, ob der Geschädigte nach einem Unfall dazu verpflichtet ist, eine bestehende Vollkaskoversicherung in Anspruch zu nehmen, um den Schaden für den Schädiger vorzufinanzieren. Dies ist insbesondere dann eine wesentliche Frage, wenn das Fahrzeug durch den Unfall nicht mehr verkehrssicher ist und bis zur Reparatur nicht mehr genutzt werden kann. Hat der Geschädigte die durch den Gutachter ermittelten Reparaturkosten von oftmals mehreren tausend Euro nicht auf seinem Konto hat, bleibt nur die Inanspruchnahme der Kaskoversicherung oder das Abwarten auf die Zahlung durch die gegnerische Versicherung. Nach der Entscheidung des OLG Naumburg im Urteil vom 19.02.2004 (AZ: 4 U 146/03) wurde davon ausgegangen, dass der Geschädigte verpflichtet ist, die Vollkaskoversicherung zur Zwischenfinanzierung der Reparaturkosten und damit zur Geringhaltung des Schadens zur Vermeidung von Mietwagenkosten oder dem Anfall von Nutzungsausfall in Anspruch zu nehmen. Zwischenzeitlich hat sich diese Ansicht jedoch geändert. Durch das OLG Dresden wurde am 04.05.2012 bereits entschieden, dass der Geschädigte – sofern er aus eigenen Mitteln nicht zur Vorfinanzierung der Reparaturkosten in der Lage ist – nicht seine Vollkaskoversicherung belasten muss (AZ. 1 U 1797/11). Durch das Landgericht Stralsund wurde diese Auffassung jetzt noch einmal bestätigt (Urteil vom 07.12.2016, AZ: 7 O 146/15). Indem dortigen Verfahren waren Mietwagenkosten in Höhe von 11.000 € angefallen, nachdem der Geschädigte die Versicherung darauf hingewiesen hatte, dass er zur Vorfinanzierung des Schadens aus eigenen Mitteln nicht in der Lage war. Die Versicherung erklärte jedoch trotzdem erst nach 3 Monaten die Haftungsübernahme, weshalb für ca. 4 Monate Mietwagenkosten anfielen. Von diesen Kosten zahlte die Versicherung außergerichtlich nur 1.300,00 € mit dem Hinweis, der Geschädigte hätte seine Kaskoversicherung in Anspruch nehmen müssen. Dieser Rechtsauffassung wurde durch das Gericht ausdrücklich zurückgewiesen. Das Gericht wies vielmehr deutlich daraufhin, dass der Geschädigte weder verpflichtet ist, einen Kredit aufzunehmen, noch seine Kaskoversicherung in Anspruch zu nehmen. Die Versicherung muss vielmehr damit rechnen, dass der Geschädigte einen Mietwagen in Anspruch nimmt und diesem gfs. ein Interimsfahrzeug zur Verfügung zu stellen oder einen preiswerten Mietwagen anzubieten.

Ralf Breywisch
Rechtsanwalt u.
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Mitglied Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des DAV